Wenn unsere Prognosen nicht irren, wird in hundert Jahren jemand die hundert Bände der Zweiten Enzyklopädie von Tlön entdecken”
Mit dieser so geheimnisvollen Prognose im Nachtrag zu seiner Erzählung Uqbar, Orbis Tertius aus dem Jahr 1947 hat Jorge Luis Borges die Buchkünstlerin Barbara Fahrner inspiriert, ihre Lesart des angekündigten Sammelwerks jetzt schon zu verwirklichen. Die Geschichte handelt unter anderem von der Utopie, Lebensverhältnisse spiegeln und in einer umfassenden Weise nachlesbar dokumentieren zu können
Diesem Gedanken geht das Projekt nach, das Barbara Fahrner, zusammen mit ihrem Sohn Markus und dessen Frau Fitnat Fahrner und anderen Gastautoren über fünf Jahre hinweg bearbeitet hat. In fünf Ordnern werden zu Stichworten in alphabetischer Reihenfolge mehr und weniger evidente Sachverhalte erfasst, Übersetzt in eine Sprache des Wort-Bild-Gefüges wie sie speziell avancierter Buchkunst unserer Zeit selbstverständlich ist.
Schon früh in der Buchgeschichte schlägt sich der Wunsch des Menschen nieder, das, was er weiß in Buchform zusammenzutragen, es zu strukturieren und in seiner Bedeutung zu profilieren. Derartige Ãœbersichten von Wissensgebieten firmieren unter dem Begriff Enzyklopädie, gestützt auf das griechische ,,Enzyklos paideia”, Bildung im Kreis angeordnet und zusammengefasst. Antike Frühformen schufen der Platon-Schüler Speusippos, gefolgt von der,,Historia Naturalis” des Plinius. Es sind bestimmte Sachgebiete, die den Themenkreis von Enzyklopädien der frühen Zeit prägen So entstanden im Mittelalter sprachbezogene, erbauliche und allegorische Sammlungen und Thomas von Aquins,,Summa theologica” macht den Anspruch deutlich, dem religiösen Blickwinkel auf die Dinge Vorrang einzuräumen. Bahnbrechend war die 1751-80 unter Denis Diderot entstandene Encyklopädie ou dictionaire raisonne des sciences, des arts et des metiers pour une societe de gens de lettres”. In diesem Großwerk aufklärerischen Geistes wurde endgültig der philosophisch profanen Betrachtung der Kompetenzvorrang zur enzyklopädischen Überschau der Welt eingeräumt und dabei ein besonderes Gewicht auf die Abhandlung der Technik gelegt.
So instruktiv waren die Illustrationen der direkt in die Werkstätten geschickten Zeichner, dass etwa Goethe befand, wenn wir einen Band ihres ungeheuren Werks aufschlugen, so war es uns zumute, als wenn man zwischen den unzähligen bewegten Spulen und Weberstühlen einer großen Fabrik hingeht…”
Wie Goethe mit Blick auf die Enzyklopädie Diderots einen Zusammenhang zwischen dem Makrokosmos des Erlebens und dem Mikrokosmos des im Buch zu Ermessenden herstellt, so besteht auch in der Geschichte Tlön, Uqbar, Orbis tertius von Borges Lebenssphäre als Vorwurf einer sie fokussierenden Enzyklopädie. Nur, daß diese so fiktiv ist wie Land und Leben, von dem sie handelt ja, dieses selbst wird dem Autor Borges, wie er einleitend ausführt, überhaupt erst zugänglich mittels einer Enzyklopädie; und zwar einer angenommenen Sonderausgabe der ihrerseits auf der realen Encyclopaedia Britannica führenden AngloAmerican Cyclopaedia (New York 1917).
Barbara Fahrner: Das Enzyklopädieprojekt besteht aus fünf mit großnem Leinen kaschierten Ordnern mit alphabetischen Registerblättern. Im Laufe der Jahre, die wir an diesem Projekt arbeiten, werden die Bücher, Graphiken, Karten etc. auf stabilen Kartonstreifen, die gelocht zum Abheften sind, kaschiert, so daß nicht nur eine beliebige Entnahme der einzelnen Beiträge möglich ist, sondern dem Besitzer der Enzyklopädie eine faktisch unbegrenzte Möglichkeit zur Umgestaltung und Variation an die Hand gegeben ist. Dieses Element unserer Zweiten Enzyklopädie von Tlön ist uns sehr wichtig, da es unser Bestreben ist, das Buch aus seiner traditionellen Linearität zu befreien, um es offener und spannender zu machen. Es wird lange Textbeiträge geben, Künstlerbücher, Originalgrafik, Unikate, Multiples und in Auflage Gedrucktes; das alles in einer Gestaltung, die mit den Konventionen bricht, da wo sie das freie, das endlose Buch behindern und damit zu einer Form kommt, bei der der Leser nicht nur passiver Leser sein kann, sondern aktiv mit seiner Enzyklopädie umgehen kann. Zum Inhalt: Die großen Bücher der Menschheit sowie die alten europäischen Märchen und Mythensammlungen werden auftauchen, es wird über Gott und die Welt gesprochen mit großem Ernst, melancholischer Ironie, und wir würden unseren tlönschen Geist verraten, wenn wir nicht auch lachen würden, Arno Schmidt wird über den Mond sprechen, Basho zeigt seine großartige Kunst des Haiku, Flora und Fauna von Tlön werden in Wort und Bild dargestellt, von großen Frauen und Männern und ihren Taten und Gedanken werden wir sprechen.